Die architektonischen Merkmale von Appenzellerhäusern sind vom oberen Toggenburg über die Kantone Appenzell Ausserrhoden und Appenzell Innerrhoden, den südlichen Ausläufern der Stadt St. Gallen bis in den unteren Teil des St. Galler Rheintals anzutreffen.
Die geologische Formation des Appenzellerlands besteht aus den karstigen Kalkalpen des Alpsteins und vorgelagerten Molasse-Hügelzügen. Diese verlaufen etwa in ostwestlicher Richtung. Die Vegetation wird durch das raue und eher feuchte Klima bestimmt. Grosse Niederschlagsmengen, deutliche Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht sowie starke Winde prägen die Kulturlandschaft.[Abb. 1]
Die Bauweise der Häuser reagiert auf die topografischen, klimatischen und wirtschaftlichen Entwicklungen gleichermassen. Die Gebäude verteilen sich als Streusiedlungen über die hügelige Landschaft oder gruppieren sich zu kleineren Weilern und Dörfern. Landwirtschaft und Textilproduktion sind bis ins 19. Jahrhundert die vorherrschenden Wirtschaftszweige. Noch heute steht die Hälfte aller Häuser ausserhalb der Bauzonen.[Abb. 2]
Der Riese «Säntis» sammelte im flachen Land Häuser und steckte sie in einen Sack. Zuhause wollte er damit eine Stadt bauen. Auf dem Heimweg streifte er mit seiner Beute eine Felskante. Die Häuser purzelten heraus und verteilten sich über die grünen Hügel. Als der Riese sah, wie gut sie in die Landschaft passten, liess er sie da zufrieden stehen.
Der Volksmund sagt, die Begriffe Ausserrhoden und Innerrhoden würden sich auf Rodungen beziehen. Tatsächlich stammt Rhoden vom romanische Roda ab. Das bedeutet Rad, Rolle - oder Reihenfolge, in der bei Genossenschaften und Korporationen Ämter besetzt und Arbeiten verteilt werden.
Im 8. und 9. Jahrhundert besiedeln Leute aus dem alemannischen Raum die bewaldete Landschaft zwischen Bodensee und Säntis. Durch Rodung wird Raum für landwirtschaftliche Nutzung gewonnen. Das anfallende Holz wird für den Bau der Häuser und zum Heizen verwendet. Seit dem Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert wird in den Bauernhäusern neben der Landwirtschaft auch Heimweberei betrieben. In Stuben und Webkellern werden zuerst Leinentücher, später auch Baumwollstoffe hergestellt. Ab den 1660 er Jahren werden die Textilien durch einheimische Fabrikanten geprüft und weltweit gehandelt. Dafür werden Fabrikantenhäuser gebaut. Die neuen Architekturformen sind von italienischen und französischen Vorbildern im Stil des Barocks und des Klassizismus beeinflusst.[Abb. 4]
Die ersten Bauten sind Blockhäuser, wie sie im gesamten Alpenraum anzutreffen sind. Im Laufe der Zeit entstehen daraus unterschiedliche Bautypen mit lokaler Prägung. Der Blockbau wird jetzt wegen seiner verschränkten Eckverbindungen Strickbau genannt.[Abb. 5]
Der Bautyp Appenzellerhaus entsteht aus der Berücksichtigung von Nutzungsanforderungen, dem zur Verfügung stehenden Baumaterial und der Topografie.[Abb. 6]
Alle Appenzellerhäuser stehen auf gemauerten Sandsteinsockeln. Bei Stallbauten sind es einfache Fundamentstreifen, bei Bauern- und Bürgerhäusern Sandsteinkeller. Die Fabrikantenhäuser stehen auf gemauerten Keller- und Erdgeschossen. Mit zunehmendem Wohlstand und Repräsentationsansprüchen werden ganzen Fabrikantenpaläste in Sandstein erstellt. Einfache Waschhäuschen werden wegen des Brandschutzes massiv gebaut.[Abb. 6]
Wichtigstes Baumaterial der Region ist einheimisches Fichtenholz. Die frühesten Häuser sind reine Strickbauten.[Abb. 7] Als holzsparende Konstruktionsart kommen der Bohlenständer- und Riegelbau dazu. [Abb. 8] [Abb. 9] Auch die Fassadenverkleidungen sind aus Holz gefertigt. Die häufigsten Verkleidungen sind die Täferfassade, der Schindel- und der Leistenschirm sowie die Deckelschalung.
An den Bauernhäusern und den Fabrikantenhäusern sind ähnliche Architekturelemente anzutreffen. Die gestrickten Häuser sind mit rasterartigen Täferfeldern verkleidet. Bei Massivbauten bestimmen Sandsteinquader die Fassadengeometrie. Pilaster, Lisenen und Simse kommen bei beiden Bauarten zum Einsatz.
Das Tätschdachhaus ist ein giebelständiges Gebäude mit flach geneigtem Satteldach. Mit einem Stallanbau in derselben Firstrichtung wird daraus ein Gadenhaus. Mit Tätschdach wird ein Dach bezeichnet, das wie plattgedrückt aussieht.[Abb. 10]
Das Heidenhaus ist ein traufständiges Gebäude mit einem flach geneigten Satteldach wie das Tätschdachhaus. Der Stall wird meist auf der Westseite in der gleichen Firstrichtung angebaut. Die Bezeichnung Heidenhaus bezieht sich auf die unterdessen widerlegte Annahme, dass diese Hausform bereits in vorchristlichen Zeiten entstanden ist.[Abb. 11]
Der verbreitetste Haustyp ist das Kreuzfirsthaus. Ab dem Jahr 1650 kann mit der Verwendung von Eisennägeln für die Schindelmontage das Dach steiler ausgebildet werden. Ein im rechten Winkel zum giebelständigen Wohnteil angebrachter Stallanbau gibt dem Kreuzfirsthaus seinen Namen.[Abb. 12] [Abb. 13]
Weberhöckli sind einfache Weberhäuser ohne Stallanbau. Im Gegensatz zu den anderen Haustypen sind sie auch an schattigen und abschüssigen Lagen anzutreffen.[Abb. 14]
Von den Fabrikantenhäusern aus wird der Leinwandhandel abgewickelt. In den Dörfern werden dafür eigene Haustypen mit Kontor- oder Büroräumen, Stofflagern und Gesellschaftsräumen entwickelt.
Ein bäuerliches Fabrikantenhaus ist die Kombination von Fabrikantenhaus und Bauernhaus. Die stattlichen Bauten verfügen meist über ein mit Sandsteinen gemauertes Sockelgeschoss. Stileinflüsse über den international organisierten Textilhandel sind in Materialwahl, Farbe und Formsprache der Gebäude zu erkennen. Neue Dachformen und Fassadengliederungen ergänzen und verfeinern die bestehenden Bautypen.
Mit der zunehmenden Bevölkerungszahl und wachsender Bedeutung der Textilwirtschaft werden öffentliche Bauten wie Rathäuser, Schulhäuser und Zeughäuser sowie Bürgerheime erstellt. Die neuen Bauaufgaben werden mit Häusern gelöst, die sich stilistisch an den bereits bekannten Bauformen orientierten. Mit zunehmendem Wohlstand steigt auch das Repräsentationsbedürfnis. Die Baustile der Häuser entwickeln und verselbständigen sich. Am auffälligsten sind neben dem Wechsel vom Holz- zum Massivbau das Walmdach und Mansardendach sowie Einzelfenster anstelle der traditionellen Reihenfenster.
Mit dem Wachstum der Textilindustrie wächst auch der Bedarf an Wohnraum. Sowohl Heimsticker wie Fabrikarbeiter waren auf eine bezahlbare Behausung angewiesen. Beispiele für die neuen Haustypen lassen sich in der ganzen Ostschweiz finden. Häufig werden diese Arbeiterhäuser und Stickerhäuser einer neuen Quartierstrasse entlang des Höhenprofils aneinandergereiht. Die Häuser zeichnen sich durch einfache Grundrisse unter einem traufständigen Giebeldach mit Querfirst in der Mittelachse aus. Die Fassadengestaltung zeigt Einflüsse verschiedener zeitgenössischer Baustile (Historismus, Jugendstil). Meist steht ein Riegel oder Fachwerkbau mit Decken als Balkenlagen auf einem massiven Sockel aus Sand- oder Backsteinen. Die Riegelwände werden zum Teil ausgemauert und innen vertäfert, aussen mit Schindelschirmen verkleidet.[Abb. 30] [Abb. 31]
Zunehmendes Arbeitsvolumen und wachsender Wohlstand führen zu ständigen Anpassungen an den Häusern. Mit dem Wechsel vom flachen Schindeldach zum genagelten Dach können die Häuser um so genannte Firstkammern aufgestockt und erweitert werden.[Abb. 32] [Abb. 33]
Der Wechsel vom Weben zum Sticken verlangt nach neuen Produktionsräumen. Reicht das vorhandene Volumen nicht mehr aus, werden Anbauten als Sticklokale erstellt. Diese verfügen im Gegensatz zu den niedrigen Reihenfenstern der Webkeller über grosse Einzelfenster. Besonders im Appenzeller Mittelland fallen Anbauten für Stickmaschinen unter einem Flachdach mit Wäschehänge auf.[Abb. 34]
Zur Unterstellung der Transportwagen werden neue Wagenschöpfe oder Remisen benötigt. Sie befinden sich in Anbauten oder stehen selbstständig neben den Hauptbauten.[Abb. 35]
Altherr, Fredi. «Vom "Echten" Appenzellerhaus.» Obacht Kultur, 1. Februar 2016: 28-29.
Ammann, Julius, et al. Heimatbuch für Appenzeller. Teufen: Landesschulkommision von Appenzell Ausserrhoden, 1984.
Hermann, Isabell. Die Bauernhäuser beider Appenzell. Herisau: Appenzeller Verlag, 2004.
Schlatter, Salomon. Appenzellerhaus und seine Schönheiten. Trogen, Appenzell Ausserrhoden: Heimatschutz Appenzell Ausserrhoden, 1986.
Steinmann, Eugen. Die Kunstdenkmäler des Kantons Appenzell Ausserrhoden. Basel: Birkhäuser Verlag, 1980.
Tanner, Albert. Das Schiffchen fliegt - Die Maschine rauscht. Zürich: Unionsverlag, 1985.
Tobler, Titus. Appenzellischer Sprachschatz. Zürich: Verlag von Drell und Fükli, 1837.
Sonderegger, Stefan, und Weishaupt Matthias. Appenzellische Jahrbücher 1987 (Heft 115); Spätmittelalterliche Landwirtschaft in der Nordostschweiz. Trogen: Schläpfer & Co., 1988.
Gerth, Roland, und Sonderegger Stefan. Faszinierendes Appenzellerland. Zürich: AS Verlag, 2019.
Schläpfer, Walter. Wirtschaftsgeschichte des Kanton Appenzell Ausserrhoden bis 1939. Gais: H.Kern AG, 1984.
Hügellandschaft Hundwilerhöhe Buchegg, 1977.
ETH-Bibliothek Zürich Bildarchiv, Stiftung Luftbild Schweiz, Swissair Photo AG
Schwarzplan Neuschwendi Trogen, 2022.
Geoportal, GEOINFO Applications AG
Riese vom Säntis, Werner Meier 2008.
Sagen aus dem Appenzellerland, Appenzeller Verlag AG
Weber in seiner Webstube, Johannes Schiess um 1844.
ETH-Bibliothek Zürich, Graphische Sammlung
Haus Bethlehem, Schwyz. 1278.
Kantonale Denkmalpflege Schwyz [STASZ, SG.CIV.20, 02-408]
Diverse Titel, 2023.
E-Nachschlagewerk für das Bauen an Historischen Häuser
Diverse Titel, 2023.
Denkmalpflege Appenzell Ausserrhoden
Diverse Titel, 2022.
Fotograf Martin Benz
Appenzeller Streusiedlung, Hundwiler Höhe, Buechberg, 1977.
ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Stiftung Luftbild Schweiz, Foto: Swissair Photo AG / LBS_L1-771127 / CC BY-SA 4.0
Schwarzplan, Neuschwendi Trogen, 2022.
Interessensgemeinschaft GIS AG (IG GIS AG), GEOINFO Applications AG
Riese vom Säntis, Werner Meier, 2008.
Sagen aus dem Appenzellerland, Appenzeller Verlag AG
Weber in seiner Webstube, Johannes Schiess, um 1844.
ETH-Bibliothek Zürich, Graphische Sammlung / Z 292 / Public Domain Mark 1.0
Haus Bethlemem, Schwyz. Um 1278.
Kantonale Denkmalpflege Schwyz / [STASZ, SG.CIV.20, 02-408]